Aus: SPIEGEL 22/26.5. 1997, S. 213:

SUBKULTUR

Schule des Schwindelns Lug und Trug als Mittel künstlerischer Medienkritik: Ein neues Handbuch animiert "Kommunikationsguerrilleros" zur Nachrichtenverfälschung.

Als der ehrwürdige Don Pierino Gelmini an einem Morgen im Januar dieses Jahres in Rom die Zeitung aufschlug, erstarrte er vor Schreck: "Don Gelmini verhaftet", meldete die katholische italienische Zeitung AVVENIRE in dicken Lettern. Im Text unter der Schlagzeile hieß es, der berühmte Priester und Wohltäter sei in eine Kinderporno-Affäre verwickelt und habe womöglich mit einem belgischen Kinderschänder kooperiert. Die Geschichte war erstunken und erlogen - doch der um seinen Ruf besorgte Pfarrer mußte sich in zahllosen Presse- und Fernsehinterviews rechtfertigen.

Ein paar Tage später bekannte sich ein gewisser "Luther Blissett" zu der üblen Fälschung: Es ginge ihm darum, "Medienhysterie und reaktionäre Meinungsmache" zum Thema Pädophilie zu stoppen. In Italien ist Luther Blissett bereits berüchtigt: Unter dem zur freien Benutzung ausgegebenen "multiplen" Namen treibt ein Kollektiv von linken Kunst- und Polit-Aktivisten seit Jahren merkwürdigen Schabernack. Entliehen ist das Pseudonym offenbar von einem englischen Fußballspieler karibischer Herkunft - der echte Luther Blissett spielte Anfang der achtziger Jahre eine Saison lang für den AC Mailand, wurde aber aufgrund miserabler Leistungen schnell weiterverkauft. Die Serie der Blissett-Fälschungen begann mit harmlosen Scherzen:1993 präsentierte der Medienschelm auf einer Pressekonferenz am Rande der Biennale in Venedig einen angeblich aus einer Tierversuchsanstalt ausgebrochenen Schimpansen und dessen Ölgemälde. Inzwischen jedoch macht Blissett nicht einmal mehr vor der Fälschung ganzer Bücher halt: Im vergangenen Sommer sorgte ein Sammelband mit Texten und Interviews des New Yorker Kultautoren Hakim Bey vor allem unter Internet-Freaks für Aufsehen. Nach einer Reihe von ehrfürchtigen Rezensionen brüskierte Luther Blissett Verlag und Öffentlichkeit, indem er bekanntgab, daß er das gesamte Buch - eine Mischung aus grobem Unfug und mystischem Kauderwelsch - selbst angefertigt hatte. Nun soll die Schwindel-Schule der selbsternannten Kommunikationskritiker auch in Deutschland Fuß fassen:"Jetzt helfe ich mir selbst!" steht in dicken Lettern auf dem Cover des soeben in zwei Anarcho-Verlagen in Hamburg und Berlin erschienenen "Handbuchs der Kommunikationsguerilla"*. Äußerlich ähnelt das Werk einer beliebten Ratgeberreihe für Autoreparaturen; als Herausgeber tritt neben einer gewissen Sonja Brünzels und einer "autonomen a.f.r.i.k.a. gruppe" auch - erstmals in Deutschland - "Luther Blissett" auf.

Auf knapp 250 Seiten schwelgen die Autoren in Anekdoten und Rekonstruktionen historischer und aktueller Schwindelaktionen, sogenannter Fakes. Freimütig bekennen sie, das Monopol auf gezielte Desinformation den Geheimdiensten streitig machen zu wollen, getreu dem Roland-Barthes-Satz: "Ist die beste Subversion nicht die, Codes zu entstellen, statt sie zu zerstören?"

Schon lange vor Luther Blissett gab es in der angelsächsischen Kunstszene mit "Monty Cantsin" oder "Karen Eliot" Namen, deren Daseinsberechtigung in größtmöglicher Popularität und glamourösem Firlefanz bestand. Mehr oder minder politisch motivierte Spaßvögel, die mit gezielten Falschmeldungen die Medien irreführten, gab es auch in Deutschland schon zuvor. So schaffte es der Journalist Jürgen Pomorin Anfang der neunziger Jahre, mit erschwindelten Meldungen gründlich Verwirrung zu stiften - wie etwa dem Angebot für brave Bürger, in den besetzten Häusern der Hamburger Hafenstraße Pauschalurlaub zu machen.

Hinter dem Luther-Blissett-Projekt jedoch steckt ein medientheoretisch wie kunsthistorisch ausgefeiltes Konzept, das sich auf so ziemlich alles beruft, was die Avantgarde-Bewegungen des Jahrhunderts beschäftigte: Surrealisten, Situationisten, Neoisten und Mail-Art - die Guerrilleros bedienen sich ausgiebig im Bauchladen der Kunstgeschichte. "Daß die Medien lügen, ist allseits bekannt", verkündet Luther Blissett, "wir wollen Möglichkeiten zeigen, ihnen die Stirn zu bieten." Wohl wichtigster geistiger Wegbereiter des Luther-Blissett-Schwindels ist der Romancier Umberto Eco, im Hauptberuf Professor für Semiotik in Bologna. In seiner Aufsatzsammlung "Über Gott und die Welt" gab er schon 1985 die Parole von der "semiologischen Guerrilla" aus. Die postmodernen Kulturterroristen, die sich heute mit diebischer Freude auf Eco berufen, bevorzugen zwar das Etikett "psychogeographische Kriegsführung", die Ziele sind jedoch ähnlich: Es gelte, die "kulturelle Grammatik" der herrschenden Zeichenregime durcheinanderzuwirbeln, um der Informationsgesellschaft ein Bein zu stellen. "Baader-Meinhof meets Baudrillard" kommentiert der US-Kommunikationswissenschaftler Mark Dery das Erscheinen des deutschen Handbuchs. In den USA gehört das Faken schon seit den siebziger Jahren zur Strategie der Öko- und Umweltschutzbewegung. Oberstes Gebot für den Kommunikationsguerrillero ist Anonymität oder besser noch eine "kollektive Identität".

Für die nächsten Jahre prophezeien die Herausgeber des deutschen Handbuchs eine Welle von Aktionen der "Kommunikationsguerrilla". Davon ist seit einiger Zeit auch die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe alarmiert. Ein wie das neue Handbuch von der "autonomen a.f.ri.k.a.-gruppe" unterzeichnetes Pamphlet mit dem Titel "Medienrandale" in der linksradikalen Postille RADIKAL war schon vor knapp zwei Jahren einer der Anlässe für eine bundesweite Verhaftungs- und Hausdurchsuchungsaktion unter vermeintlichen Redaktionsmitgliedern. Mitte März stand in Rom auch erstmals Luther Blissett vor Gericht - in Gestalt von vier jungen Italienern, die beim Schwarzfahren erwischt worden waren. Das Quartett konnte allerdings weder dem Schaffner noch dem Richter vermitteln, weshalb eine kollektive Identität nur einen Fahrschein nötig hat.

 

* autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels: "Handbuch der Komunikationsguerilla". Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg, und Schwarze Risse/Rote Straße. Berlin; 235 Seiten; 29,80 Mark.

Bilder vom Fake-Opfer Don Gelmini und Phantombild von "Luther Blissett": Unfug und Kauderwelsch